„Wenn
Kapitale so entstanden wären, wie das Adam Smith und Marx beschrieben
hatten, dann wären Tausende Jahre nötig gewesen, damit die heutigen
Oligarchen entstehen würden. Sie sind jedoch in einer sehr kurzen Zeit
entstanden. Auch im Westen.“
Alexander Sinowjew
Das Phänomen der globalen Megamacht und seine „wirtschaftliche“
Projektion haben wir letztes Mal erörtert. Heute setzen wir uns damit
auseinander, was viele herausragende Denker (von den vormarxistischen
Sozialisten und Utopisten bis hin zum ersten Postmarxisten Alexander
Sinowjew)
für das absolute Übel hielten: das private Eigentum. Dabei gab
es allerdings nicht weniger Denker, die das Privateigentum als eine
angeborene Eigenschaft des Menschen betrachteten, die jetzt als eines
seiner natürlichen Rechte gilt. Egal wie, unumstritten ist, dass
Privateigentum und sein heiliger Status immer ein systembildendes
Element der westlichen Gesellschaft war – genauso wie sein Negieren und
sein Fehlen für die sowjetische Gesellschaft systembildend war. Seit den
Zeiten der so genannten bürgerlichen Revolutionen – von der britischen
bis zur russischen bürgerlichen Konterrevolution von 1991 – war die
Etablierung des „heiligen Rechts des privaten Eigentums“ das wichtigste
Ergebnis dieser Revolutionen, das die Basis der ganzen sozialen Struktur
bildete und der wichtigste Reproduktionsmechanismus der traditionellen
westlichen Regierungsklasse und dementsprechend auch der Macht war. In
Russland war das Privateigentum nie ein solcher Mechanismus – nicht vor
der Sowjetzeit und erst recht nicht während der Sowjetzeit.
Als eines der wichtigsten Probleme des sowjetischen Projektes erwies
sich das Problem der Reproduktion der Regierungsklasse und
dementsprechend der Macht ohne Verbindung zur Institution des privaten
Eigentums. Dieses Problem wurde zur wichtigsten Triebkraft der
„Perestroika“ und der russischen bürgerlichen Konterrevolution 1991.
Die sowjetische Parteiführung, die in der Sowjetzeit gerade die
Regierungsklasse war, wurde in den 1980er-Jahren allmählich müde. Die
sowjetische Regierungsklasse hatte keine Mechanismen zur eigenen
Reproduktion und dementsprechend zur Reproduktion der Macht. Der einzige
Mechanismus ihrer Erneuerung (sprich die einzige „Karriereleiter“) war
mit Repressalien innerhalb der Regierungsklasse verbunden. Jede Person
in der Parteiführung konnte über Nacht alles verlieren. Wenn jemand aus
der Parteiführung verdrängt wurde, dann bedeutete das für ihn praktisch
die völlige Entsozialisierung. Das war das Wichtigste, was sich die
sowjetische Regierungsklasse nicht gefallen ließ. Die Pläne der
sowjetischen Parteiführung zur Gestaltung eines gewissen „Erbrechtes“
auf die Macht, zur Bildung von Mechanismen zur Reproduktion des sozialen
Status nach dem westlichen Modell waren eine der wichtigsten Ursachen,
warum das sowjetische Projekt gescheitert ist. Zu diesem Zweck musste im
Land das „heilige Eigentumsrecht“ etabliert werden.
Die Organisatoren der postsowjetischen Privatisierung (Anatoli
Tschubais und sein Team) machen heutzutage kein Hehl daraus, dass das
wahre Ziel der Privatisierung nicht die Schaffung von neuen und
effizienten Mechanismen zur Wirtschaftssteuerung und nicht die
wirtschaftliche Entwicklung des Landes war, sondern die Entstehung einer
neuen Klasse von privaten Großeigentümern. Das ist ihnen auch gelungen.
Kennzeichnend ist die zweite Präsidentschaftswahlkampagne Boris
Jelzins: Am Anfang liebäugelten die größten Privateigentümer Russlands
(die so genannte „Sieben-Banker-Clique“) mit dem angeblich
oppositionellen Kandidaten Gennadi Sjuganow, so dass für Jelzin die
reale Gefahr entstand, die Wahl zu verlieren. Dieser musste sogar ein
Szenario erwägen, wie er gewaltsam an der Macht bleiben könnte. In
dieser Situation bot die „Sieben-Banker-Clique“ um Anatoli Tschubais dem
Noch-Präsidenten einen Deal an: Sie würden das für ihn nötige
„Wahlergebnis“ arrangieren, und Jelzin würde ihnen aus „Dankbarkeit“ die
größten und lukrativsten Aktiva im ganzen Land überlassen, die zu dem
Zeitpunkt immer noch dem Staat gehörten. Jelzin musste diesen Deal
akzeptieren, blieb an der Macht, und die Oligarchen bekamen ihre Aktiva.
Dieses Szenario wurde von der westlichen Übergesellschaft befürwortet
und unterstützt.
Man muss einräumen, dass der einzige richtige Wirtschaftsprozess im
postsowjetischen Russland die Privatisierung war. Alle russischen
Großkapitale sind als Ergebnis von Entscheidungen entstanden, die die
russische Machtspitze getroffen hatte. Diese Kapitale resultierten nicht
aus wirklichen Geschäftsaktivitäten oder aus der Nutzung von
wissenschaftlich-technischem Know-how.
Das Problem besteht darin, dass das russische private Großeigentum
und das russische Kapital gleich als Strukturelemente der westlichen
Übergesellschaft entstanden und außerhalb der russischen Staatsmacht
bleiben sollten. Jelzin geriet in die Rolle einer Marionette. Die
Privatisierung führte nicht zur Entstehung eines klassischen
Reproduktionsmechanismus der nationalen Regierungsklasse und hat
in unserem Land eine „Infrastruktur“ einer westlich geprägten
Übergesellschaft geschaffen.
Jelzins spätere Abdankung und Putins Wahl wurden von unserer
Oligarchen-Elite als reines PR-Projekt geplant. Es ist jedoch
gescheitert. Putin wurde keine Marionette der Oligarchen. Noch mehr als
das: Er hat das Kapital gewissermaßen unter staatliche Kontrolle
genommen. Das war keine Problemlösung, sondern eine Art
Übergangszustand. Putin hat das geschafft, aber einem anderen
Präsidenten wird das wohl nicht gelingen. Möglich ist auch, dass der
andere Präsident ein Agent des Kapitals sein wird. Natürlich sollte
eine Art Amnestie der nach Russland zurückkehrenden Kapitale organisiert
werden, damit sie von den westlichen Ländern nicht als Einflusshebel
genutzt werden können. Klar ist aber, dass dies das Problem nicht lösen
wird. Was bleibt? Eine Verstaatlichung? Eine Rückkehr zum sowjetischen
Projekt?
2006 sagte Alexander Sinowjew in einem seiner letzten Interviews:
„Wenn die Menschheit das globale Übel – das private Eigentum – nicht
überwindet, dann stirbt sie.“ Sinowjew ging in der damaligen Zeit
besonders behutsam mit den Begriffen, die er verwendete, um. Deshalb hat
er wohl nicht zufällig ausgerechnet auf das Wort „überwinden“ und nicht
„vernichten“, „verbieten oder „liquidieren“ zurückgegriffen, obwohl
gerade das der Marxismus und das sowjetische Projekt verlangt hätte.
Aber eigentlich forderte bereits das sowjetische Projekt nicht den
völligen Verzicht auf privates Eigentum, sondern verbot es nur in Bezug
auf so genannte Produktionsmittel. Uns scheint das Problem der
Menschheit nicht in der Institution des Privateigentums selbst, sondern
erstens in seiner Etablierung als generelles Prinzip in Bezug auf die
soziale Organisation zu bestehen, und zweitens in der Symbiose der
Institution des privaten Eigentums und der Machtsubstanz, die
tatsächlich der systembildende Faktor für das menschliche Sozium ist.
Das Privateigentum zu überwinden, bedeutet, für das Privateigentum einen
richtigen Platz im System des Soziums zu finden.
Das private Eigentumsrecht, das laut Marx die Basis der
Kapitalentstehung bildet, ist an sich das Recht der Wirtschaft. Marx
betrachtete das Phänomen der Kapitalentstehung in erster Linie als ein
wirtschaftliches Phänomen. Er sagte fast nichts über die Macht als eine
Sondersubstanz. Er setzte sie dem Staat völlig gleich und verwies auf
die Notwendigkeit des „Absterbens“ sowohl des privaten Eigentums als
auch des Staates.
Schon Lenin betrachtete in seiner Imperialismus-Theorie die Symbiose
des Kapitals und der Macht als Bedingung und den wichtigsten Mechanismus
der Reproduktion beider Substanzen. Heutzutage ist die Situation noch
schlimmer: Das Kapital ist im sozialen Sinne zur Übergesellschaft
aufgestiegen und hat den Staat (laut Sinowjew) in nur einen der vielen
Macht-„Kanäle“ verwandelt, und zwar nicht in den wichtigsten. Die vom
Kapital durch die Strukturen der Übergesellschaft usurpierte Macht wird
nicht mehr vom Staat geregelt. Sie ist völlig frei vom Staat, der die
Macht nicht mehr einschränken kann. Eine solche Macht, die unabhängig
vom Staat angewandt wird, wird zur Megamacht. Unter den neuen
Bedingungen der entstandenen Megamacht erfolgt eine Transformation des
Eigentumsrechts. Es ist nicht mehr „heilig“. Die Megamacht hat sich dem
Staat untergeordnet und wendet dieses Recht willkürlich an. Ein gutes
Beispiel dafür war die Regelung der Finanzkrise in Zypern. Es ist kein
Geheimnis mehr, dass dieses Szenario notfalls auch in jedem anderen
EU-Land umgesetzt wird. Ein anderes Beispiel machen all die so genannten
Sanktionen aus: Die Megamacht braucht schon kein privates
Eigentumsrecht mehr, um sich zu reproduzieren. Die Institution des
Privateigentums war das „heilige Recht“ nur innerhalb des jeweiligen
Staates. Die Übergesellschaft und die Megamacht sind die Feinde des
Staates. Die Etablierung der Übergesellschaft und ihrer Megamacht führen
uns zum Absterben sowohl des Staates als auch des privaten Eigentums,
was Marx eben verlangte. Darin besteht die Ironie der Geschichte: Die
kommunistische Politik, die ursprünglich auf die völlige Liquidierung
des privaten Eigentums und dann auch des Staates ausgerichtet war,
entpuppte sich als Problem. Und es ist klar, warum.
Privates Eigentum ist eine Institution der Wirtschaftsaktivitäten.
Nur so sollte es betrachtet werden. Dabei handelt es sich um eine lokale
und keine globale Institution, das nur einem der Bereiche der
menschlichen Aktivitäten und zwar den Wirtschaftsaktivitäten angehört.
Das private Unternehmertum, die Kapitalaufstockung ist ein durchaus
mögliches und sozial nützliches Szenario der menschlichen
Selbstbestimmung. Nicht das einzig mögliche, aber auch kein solches, das
verboten und vernichtet werden muss. Es muss nur aus rechtlicher Sicht
richtig lokalisiert werden. Doch diese Aufgabe ist unheimlich schwer zu
erfüllen, besonders heutzutage, unter den Bedingungen der totalen
Megamacht. Dafür ist nötig:
1. Die Macht ausschließlich in den staatlichen Rahmen
zurückzuführen, indem sie den Strukturen der Übergesellschaft
weggenommen wird und der Staat modernisiert wird, so dass er die einzige
Institution für die Machtanwendung unter den heutigen Bedingungen ist.
2. Die wirtschaftlichen und politischen Rechte voneinander richtig
zu trennen. Die Menschen, die Eigentumsrechte genießen, sollten keine
politischen Rechte und damit keine Macht haben. Die Regierenden sollten
ihrerseits keine wirtschaftlichen Rechte genießen und damit kein
Eigentum bzw. keinen Reichtum haben. Die aktuellen Formen der Geschäfts-
und Machttrennung im Rahmen der allgemeinen verwaltbaren Demokratie
erfüllen diese Funktion nicht. Noch mehr als das: Sie dienen als
Tarnmittel für die reale Megamacht.
Lassen Sie mich daran erinnern, dass die wichtigste Forderung der
bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit die Forderung nach politischen
Rechten für die Bourgeoisie war. Die Bourgeoisie wollte an die Macht.
Die Folgen ihrer Machtübernahme beobachten wir jetzt – als die
etablierten Strukturen der Übergesellschaft und Megamacht. Man hätte
nicht politische Rechte für das Bürgertum verlangen sollen, sondern den
Verzicht der Machthaber auf Wirtschaftsrechte. Natürlich war das damals
unmöglich. Aber heutzutage ist das eine der prinzipiellen Forderungen
für die neue soziale Planung, die wir erfüllen müssen, wenn wir unsere
russische Zivilisation aufrechterhalten und frei von der Macht der
westlich geprägten Übergesellschaft sein wollen, wie sie Alexander
Sinowjew beschrieben hat.
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